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Text A: In tiefster Dunkelheit Marcel Reif, 63, ist ein bekannter TV-Moderator in Deutschland. Er erzählt von einem Mann, der seinem Vater das Leben rettete: Berthold Beitz.
Was sagt man über einen Menschen, ohne den es einen selbst nicht gäbe? Berthold Beitz hat Hunderten Juden das Leben gerettet. Einer von ihnen war mein Vater. Mein Vater hat nie erzählt, was er im Krieg erlebt hat. Offenbar wollte er unsere Familie nicht dazu erziehen, in jedem Deutschen den potentiellen Täter, den Mörder unseres Großvaters oder unseres Onkels zu sehen.
Er hat sein Leben lang geschwiegen, und meine Mutter war seine Komplizin des Schweigens. Vater starb 1994. Erst vor vier, fünf Jahren machte Mutter Andeutungen, dass ein großer Mann ihn einst aus dem Todeszug geholt und ihm damit das Leben gerettet hatte. Als ich einige Zeit später eine Biografie über Berthold Beitz las, wurde mir klar, dass er das gewesen sein musste.
Beitz war damals, während des Krieges 1941, Ende zwanzig und Leiter einer Raffinerie nahe Lemberg in der heutigen Ukraine, wo meine Familie herstammt. Mein Großvater hatte eine Möbelfabrikation, er baute auch Möbel für Beitz.
Mein Vater war damals ein kräftiger Kerl von 18 Jahren. Der Zug, in dem er und seine Geschwister saßen, hätte sie alle in ein Vernichtungslager gebracht. In Boryslaw, auf einem Bahnsteig voller SS-Leute, stand Berthold Beitz und sagte: Die fahren nicht weiter, ich brauche diese Leute für kriegswichtige Arbeit.
An diesen Mut erinnert ein Baum, der für Beitz in der Allee der Gerechten in Jad Vaschem (1) errichtet wurde. Er selbst ist nie durch die Welt gezogen und hat nie damit geprahlt, wie viele Juden er gerettet hatte.
Vor drei Jahren habe ich erstmal Kontakt zu Beitz aufgenommen. Ich habe ihm geschrieben, dass ich ihn für eine Zierde der Menschheit (2) halte. Er antwortete mir, dass er mich gern kennen lernen würde, und lud mich zu einer Preisverleihung in der Villa Hügel in Essen ein. Er und seine Frau Else wurden von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft geehrt.
Als ich vor ihm stand, hatte ich einen Kloß im Hals. Ich habe ihn nichts gefragt, sondern mich nur verneigt (3). Als er merkte, dass ich nicht mehr flüssig reden konnte, legte er mir die Hand auf die Schulter. Diese Begegnung werde ich nie vergessen. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen.
Es ist ein Zufall, dass ich gerade jetzt auf Sylt (4) bin. Ich sitze 40 Meter von dem Haus entfernt, in dem Beitz am vorigen Dienstag gestorben ist. Man hatte mir erzählt, dass er hier sei und jeden Tag spazieren gehe. Aber ich wollte nicht klingeln. Ich wäre mir vorgekommen wie ein Autogrammjäger. Zu seinem 100. Geburtstag in zwei Monaten würde sich vielleicht ein Wiedersehen ergeben, so hatte ich gehofft.
Sein Tod macht mich traurig. Noch trauriger wäre ich allerdings, wenn es mir nicht möglich gewesen wäre, ihm zu danken.
Sein moralisches Handeln und Tun haben in tiefster Dunkelheit geleuchtet. Die Menschheit ist jetzt ärmer.
Nach: Der Spiegel, 05.08.13
TEXT B: Berthold Beitz Dass es diesen einen Beitz gab, das versöhnt viele Deutsche mit der Geschichte ihres Landes.
„Manche wollen aus mir einen Helden machen, aber das war ich nicht“, hat er später gesagt, „ich habe einfach als Mensch gehandelt“.
Der gelernte Bankkaufmann ließ sich 1952 von Alfried Krupp als Generalbevollmächtigter (5) für den Konzern Krupp engagieren.
Von den fünfziger Jahren an baute Beitz Kontakte nach Polen, Ungarn, in die Sowjetunion und später auch in die DDR auf.
Beitz ging es vor allem um den riesigen Markt im Osten, der für Krupp durchaus glänzende Geschäfte versprach.
Dass Beitz nun in vielen Nachrufen als „Jahrhundertmann“ beschrieben wird, hängt auch mit seiner Rolle als Unternehmer zusammen. Beitz steht für die deutsche Variante des Kapitalismus, die soziale Marktwirtschaft.
Er fühlte sich verantwortlich für die Beschäftigten, für die Arbeitsplätze in der Region. Ein Betriebsratschef dankte ihm für die „schützende Hand“, die er über die Belegschaft (6) halte. Für Manager, die an Profitmaximierung denken, hatte Beitz keine Sympathie.
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Nach: Der Spiegel, 05.08.13
- 1. die Allee der Gerechten in Jad Vashem: l’allée des Justes à Yad Vashem (Jérusalem)
- 2. eine Zierde der Menschheit sein: faire honneur au genre humain
- 3. sich verneigen: s’incliner
- 4. Sylt: deutsche Nordseeinsel
- 5. der Generalbevollmächtigte: le fondé de pouvoir
- 6. die Belegschaft: le personnel d’une entreprise