ABBILDUNG
TEXT A Die Initiative "Lebensmittelretter"
Heute ist ein guter Tag: Es sind Früchte im Müll (1) . "Toll", sagt Raphael Fellmer. Da wird sich meine Tochter freuen." Der 30-jährige Berliner ernährt seine Familie von Abfall (2). Oder besser gesagt von dem, was Supermärkte dazu deklarieren. Zweimal die Woche fährt er zu einer Filiale der Bio Company, wo die Mitarbeiter ihm die Lebensmittel übergeben, die sie sonst weggeschmissen (3) hätten.
Müslipackungen, Salat, Brötchen, die zu Dutzenden übrig geblieben sind. Am Morgen müssen neue Produkte in die Regale. In Fellmers Rucksack kommt nicht alles rein. Er ist mit seinem Rad gekommen, in der Tasche ein Ausweis:
"Lebensmittelretter" steht auf einem Stück Papier. Raphael Fellmer hat diese Initiative im letzten Sommer gegründet.
Fellmer hat alle Biosupermärkte seiner Umgebung angeschrieben, ihnen angeboten, die Lebensmittel abzuholen, bevor sie in die Tonne kommen. Der Chef der Bio Company war der einzige, der positiv antwortete.
"Wir leben in einer perversen Überflussgesellschaft (4)", sagt Fellmer. Jeder Deutsche schmeißt im Schnitt fast 80 Kilo Lebensmittel weg - pro Jahr. Fellmer kennt die Zahlen dutzender Studien auswendig: Elf Millionen Tonnen Lebensmittel landen in Deutschland jährlich auf dem Müll. Mehr als die Hälfte davon - 6,7 Tonnen - wäre noch essbar gewesen.
Er wollte das erst selbst nicht glauben. Vor ein paar Jahren studierte Fellmer noch Europawissenschaften in den Niederlanden, da sah er einen Dokumentarfilm über die Nahrungsindustrie. Dieser zeigte, wie Supermärkte massenweise essbare Lebensmittel wegschmissen. An dem Abend nahm er sein Fahrrad und fuhr auf den Hinterhof eines nah gelegenen Supermarkts. "Ein Blick in eine Mülltonne reichte", erzählt Fellmer. Sie war prall gefüllt mit Essen.
Damals begann der Student zu "containern": Er holte sich seine Nahrung aus den Abfallcontainern von Supermärkten. Einmal, nach Ostern, fand er 200 Kilo Schokolade und Kekse im Müll, noch Monate haltbar. Er verteilte sie an Freunde und Nachbarn.
Die meisten Lebensmittelretter und Foodsharer finden den Großteil ihrer Ernährung in den Containern der Supermärkte. Was fehlt, kaufen sie dazu. Aber das kommt für Fellmer nicht infrage. Denn er lebt ohne Geld. Streik nennt er das. Er bestreikt die Überflussgesellschaft, den Kapitalismus, die Verschwendung. "Warum sollte ich mir auch etwas kaufen? Es ist doch schon so viel da."
Nach Christine Kensche, goodimpact.org, 28.08.2013
1 im Müll = in der Tonne
2 der Abfall kommt normalerweise in die Tonne
3 wegschmeißen ( i-i ): jeter
4 der Überfluss: la surabondance TEXT B Geben und nehmen
Ferienzeit. Der Urlaub steht noch an, die Koffer sind schon gepackt. Doch im Kühlschrank sind noch Milch und Käse. Laut Aufdruck (1) sind sie in einer Woche nicht mehr essbar. Wegschmeißen? 22 Millionen Euro landen auf diese Weise jährlich in Deutschlands Mülleimern. Dabei gibt es für solche Fälle jetzt in Berlin eine coole Alternative: die "Fair Teiler".
Es geht um insgesamt 21 Kühlschränke, die Platz für nicht mehr gebrauchte Lebensmittel bieten. Den ersten sogenannten Fair Teiler gab es im Januar 2013 in der Markthalle IX in Berlin-Kreuzberg. Hier können Lebensmittel reingelegt, aber natürlich auch herausgenommen werden. Es geht also um eine Art 24-StundenSupermarkt mit Überraschungseffekt: Man weiß nie, was man bekommt. "Bis zu dreimal am Tag werden die Kühlschränke von jungen und alten Berlinern, ja sogar auch von Touristen befüllt", erzählt Usa Fialik, eine von 1500 selbst ernannten "Lebensmittelrettern" in Berlin.
Nach Jana Kugoth, Der Tagesspiegel, 25.10.2014
1 laut Aufdruck: selon la date limite de consommation .